Im Fokus – Nicola Canestrini
Nicola Canestrini
Strafverteidiger
Was bedeutet Wahrheit für Sie?
Im Strafverfahren ist Wahrheit kein statischer Zustand, sondern ein Ergebnis eines strukturierten, rechtsstaatlich abgesicherten Suchprozesses. Ich spreche lieber von Wahrheiten – im Plural –, denn jede Partei bringt ihre eigene Perspektive, ihre eigene Narrative ein. Der Strafprozess soll diese Perspektiven konfrontieren. Wahrheit ist das, was nach der Beweisaufnahme nicht mehr sinnvoll bestritten werden kann. Wahrheit ist nicht das, was “war”, sondern das, was am Ende der Hauptverhandlung überzeugend feststeht – unter Berücksichtigung der Beweisaufnahme, der Fairness des Verfahrens und der Rechte der Verteidigung.
Welches Wort verbinden Sie ganz spontan mit der Wahrheit?
Zweifel. Denn wer mit Wahrheit arbeitet – im Strafprozess, vor allem als Verteidiger – weiß, dass sie selten eindeutig ist. Wahrheit verlangt Prüfung, Infragestellung, Kontext. Zweifel schützt vor Vorverurteilung. Wer behauptet, die Wahrheit zu kennen, ohne Widerspruch zuzulassen, verwechselt Überzeugung mit Objektivität. Der Zweifel ist das Werkzeug des Verteidigers – nicht um die Wahrheit(en) zu zerstören, sondern um ihr näher zu kommen.
Wie wichtig ist es Ihnen, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es unangenehm sein kann?
Sehr wichtig – im richtigen Rahmen. Als Verteidiger ist mein Beruf nicht, „die Wahrheit zu sagen“, sondern die Wahrheit der Anklage in Frage zu stellen. Persönlich halte ich es für ein Zeichen von Integrität, Unangenehmes auszusprechen – doch im Gerichtssaal kann die Wahrheit durch viele Perspektiven gehen. Deshalb kämpfe ich nicht für „die Wahrheit“, sondern für ein faires Verfahren.
Wie wägen Sie den Wahrheitsgehalt einer Aussage ab?
Durch Konfrontation mit anderen Quellen. Wahrheit entsteht nicht isoliert. Ich prüfe Widersprüche, Motive, Kontext, Kommunikationsbedingungen. Wahrheit ist der Pluralismus der Informationsquellen. Aussagen müssen sich der Belastung des Widerspruchs stellen. Nur was bestehen bleibt, hat Beweiskraft. Jede Aussage sollte im Kontext geprüft werden: Entstehungssituation, Widerspruchsfreiheit, Interessenlage, aber vor allem durch den Abgleich mit anderen Informationsquellen. Im Strafverfahren entsteht Wahrheit aus der Konkurrenz widersprechender Sichtweisen – es ist ein plurales Geschehen. Deshalb ist eben der Begriff “Wahrheiten” oft angemessener als der Singular.
Wo bräuchte es mehr Wahrheit?
In der medialen Darstellung von Strafverfahren. Der öffentliche Diskurs liebt klare Täter-Opfer-Zuweisungen, schnelle Urteile und Empörung. Doch echte Wahrheit braucht Geduld, Differenzierung, Verfahrensrechte. Wir brauchen mehr Wahrheit über die Begrenztheit unserer Wahrnehmung, auch als Gesellschaft.
Welche war Ihre letzte (Not)Lüge?
Vermutlich gegenüber einem meiner Kinder – um einen Überraschungsmoment nicht zu verderben. In solchen Fällen erlaube ich mir bewusst, eine kleine Unwahrheit in den Dienst der Freude zu stellen. Es sind Ausnahmen, in denen ich die emotionale Wahrheit über die faktische stelle – nicht aus Berechnung, sondern aus Zuneigung. Auch das gehört zur menschlichen Dimension der Wahrheit: Sie ist nicht immer absolut, manchmal ist sie eine Frage des Takts.
Foto: © Perini